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Bauchschmerzen

4 min

Einen Monat lang schon Aufstehen gegen Rechts. Einen Monat lang schon Bauchschmerzen. Warum eigentlich? Drei Gründe.

Einen Monat lang schon Aufstehen gegen Rechts. Einen Monat lang schon Bauchschmerzen. Warum eigentlich? Drei Gründe

1. Endlich Echte Nazis

Wir kennen es von BLM. Damals haben sich die Party-Proteste (samt Schlauchboot auf dem Kanal) für viele bereits irgendwann komisch angefühlt. Und auch heute tun sie das – zumindest für mich. Zum Einen, weil sie eine Idee von "den Nazis" und von geheimen Hinterzimmern erzählen. Das mag zwar eine klare gut-böse Orientierung anbieten (war ja alles "kompliziert" genug die letzten Monate) – mit der Realität vieler Menschen mit sog. „Migrationshintergrund“ haben sie aber oft nichts zu tun: nicht auf der Straße, nicht in der Politik, nicht im Alltag.

Es scheint die Tragödie der Demokratie zu sein, dass so richtig Mainstream halt nur immer nur das wird, was maximal platt heruntergekocht ist: Wir die Guten, ihr die Bösen. Wir der Anstand, ihr die Nazis. Das zu markieren ist Anfang und Ende der Diskussion. Keine Forderungen an wen auch immer, keine Lösungsangebote. Und natürlich bei Leibe keine Selbstkritik – klar, das Gegenteil ist das Programm: Die kollektive Selbstvergewisserung, dass man – obwohl man vielleicht schwierig ruhig war in den letzten Wochen, Monaten, Jahren – irgendwie doch noch zu den Guten gehört. Das ist menschlich verständlich und gesellschaftlich ernüchternd. Vor allem, weil die Verschachtelungen, die Narrative und die Konsequenzen dieser wachsenden Verschiebung nach rechts allesamt so viel komplizierter sind, als einfache Gut-Böse-Geschichten. Wenn der große kollektive Aufschrei immer erst dann kommt, wenn es wirklich dem Letzten unmissverständlich und dramatisch (Deportationsgeheimtreffen!!) verklickert werden kann, dann macht mir das Angst. Denn dass Nazis so offensichtlich Nazidinge tun ist die Ausnahme, nicht die Regel. Die Massenproteste laufen Gefahr, dafür zu sorgen, dass all die subtilen, strukturellen, diskursiven Verschiebungen, auf die so viele seit so langer Zeit hinweisen, halt auch künftig einfach nicht dramatisch und eindeutig genug sind. Dabei sind sie, nicht fantastische Deportationsprojekte, (noch) der Regelfall, den so viele Menschen in Deutschland täglich erleben. Nur ist dieser Regelfall viel mehr Alltag, viel mehr boring und viel weniger eindeutig als "oh guck mal ein richtiger Nazi".

Übrigens: was genau an einem Geheimplan zur Remigration von Martin Sellner und seinen Freunden geheim sein soll, wenn gleichzeitig ein Buch mit dem Titel "Remigration: Ein Vorschlag" von Martin Sellner Platz 1(!!!) der Amazon Bestseller-Liste belegt, habe ich noch nicht ganz verstanden. (Höcke liegt übrigens auf Platz 17.) Dass die AfD jetzt plötzlich also echt rechts ist und die Identitären mag, erscheint mir nicht besonders erschütternd (Handelsblatt berichtete entsprechendes bereits 2016). Dass es also sieben Jahre später - kurz vor dem vierten Jahrestag von Hanau – noch einen Enthüllungs-Scoop dazu braucht, um "wachzurütteln", könnte daher vielleicht auch schwierigere Gründe haben: was, wenn das Geheime am Geheimtreffen nicht die Nazis waren, sondern die Tatsache, dass alle es längst wussten aber so getan haben, als wäre nichts? Enthüllt worden wäre dann vor allem das eigene Desinteresse der Vergangenheit.

2. Menschenrechte, klar – aber jetzt nicht immer überall die ganze Zeit bitte

Apropos Desinteresse. Zu Ende gedacht, ist der "Protest gegen rechts" wohl als Protest gegen eine menschenverachtende Politik zu verstehen. Also eine Politik, die, in letzter Konsequenz, Menschen aufgrund ihrer Herkunft, Religion, Sexualität oder sonstiger Merkmale kollektiv diskriminiert. Bevor es soweit kommt, heißt es aufstehen! Wehret den Anfängen! Wir wissen wohin das führen kann! Es scheint mir, gelinde gesagt, wild, mit dieser Idee an einem Sonntag auf die Strasse zu gehen – und am Samstag davor bei einem Protest gegen einen unmittelbar drohenden Genozid, mindestens jedoch eine in der jüngeren Militärgeschichte nie dagewesene Kollektivstrafe von über einer Million Zivilisten durch eine rechtsextreme Regierung – wohl gemerkt durch die eigene „anständige“ Mitte-Regierung aktiv finanziell und militärisch unterstützt – leider kein Interesse zuhaben. Wenn es hier um eine universelle Idee von Menschenrechten geht, dann gilt diese nicht nur am Anfang, bevor es zu spät ist. Sie muss genau so unbedingt und noch viel mehr am Ende gelten, wenn schon alles zu spät ist. Alles andere können wir lassen.

Diese beiden News-Cycles bei diesen Demos nicht irgendwie miteinander in Verbindung zu bringen, nährt leider den unangenehmen Vorwurf, immer genau dann laut zu werden, wenn's grad nichts zu verlieren gibt. Das führt leider insbesondere beim Thema Rassismus auf bittere Art ein weiteres Mal genau jene Privilegien einer weißen Mehrheitsgesellschaft vor, die Rassismus eben ausmachen. Struktureller Rassismus war schon immer die Macht, wählen zu können, wann welche Diskrimierung gerade interessiert und wann nicht. Auch deshalb fühlen sich diese Proteste für viele nicht-weiße Menschen wohl etwas hohl an.

3. Symptomkrämpfe

Womit wir beim dritten Bauchschmerz sind. Der Kulturkritiker Mark Fisher hat mal eine wunderbare Frage gestellt: What if you held a protest and everyone came? Fisher schrieb damals über die Live8-Proteste der 2000er – man erinnert sich leider: Bono und Bob Geldorf hatten die sehr gute Idee, Armut abzuschaffen. (Spoiler: That didn't happen.) Es gibt dabei interessante Parallelen zu den Massenprotesten "gegen rechts": Der bittere Witz bei beiden ist, dass man letztlich gegen sich selbst protestiert. Es ist nicht der "Andere", der Nazi, der Großkapitalist, der Schuld hat an der Misere der Welt. Es sind leider wir selbst, die Mitschuld haben, an genau den Dynamiken, die die Anderen hervorbringen. Eine ehrliche Ursachenforschen führt bedrückend schnell vor die eigene Haustür, oder zumindest vor die von Christian "ich spalte gerne auf Bauernprotesten" Linder, von Olaf "mit großem Stil" Scholz, oder Ricarda "Asylrecht in der Europäischen Union sichern – ich stimme dagegen" Lang. Und, noch schlimmer: vor die derjenigen, die diese Politik wählen und unterstützen. Aber halt, das wären ja – fast alle!?

Rassismus ist immer ein Symptom. Das ist auch die AfD. Feuerlöschen und Brandmauern sind gut und sinnvoll. Noch sinnvoller ist es, sich als Gesellschaft ehrlich zu fragen, was die Ursache hinter diesem Symptom ist, das deutliche größer ist als Deutschland. Welchen Anteil wir trotz all der guten Intentionen täglich daran haben. Wo wir es uns leisten, zwei Augen zuzudrücken, das "geringere Übel" (für wen eigentlich?) zu wählen. Wo wir es uns einfach machen und unsere Energie auf die Strasse zu tragen, anstatt von unserer Politik, unserer Medienlandschaft, unserem Bildungs- und Sozialsystemen, von uns selbst einzufordern, nicht immer wieder solche schrecklichen Symptome zu produzieren. Vielleicht, in dem wir selbst diese Politik, diese Medien, diese Erziehungs-Arbeit machen. Wenn nach der Sonntagsdemo dafür noch Zeit und Kraft da ist: Super! Wenn nicht, dann vll nochmal kurz überlegen.

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